Ohne Filter – Welche Bilder aus Nizza ins TV gehören und welche nicht

Nach einem Attentat stellen sich unweigerlich Fragen, welche Bilder gezeigt werden dürfen und welche nicht. Mobile Endgeräte und Livestreaming-Möglichkeiten verkomplizieren die Situation. Bei dem Attentat in Nizza trat der bemerkenswerte Fall ein, dass mit Richard Gutjahr ein Journalist direkt vor Ort war, der mehr als nur wohlbekannt mit diesen neuen Möglichkeiten ist. Er lieferte Bildmaterial von seinem Balkon in Nizza. Es zeigt den LKW und wie er in Richtung der feiernden Menschenmenge fährt, Fahrt aufnimmt und wie Menschen davonrennen. Er hat dieses Material nicht live gesendet (obwohl er dazu fraglos in der Lage gewesen wäre), sondern öffentlich-rechtlichen Medien zur Verfügung gestellt.

Es entbrannte recht schnell eine Debatte um „Medienethik“ in solchen Fällen. Auf Attentate folgt mittlerweile immer eine reflexhafte Medienkritik im Modus der Empörung: Journalisten und „den Medien“ wird vorgeworfen, die Ethik beiseite zu lassen und voyeuristisch zu agieren. Auch Gutjahr erntete Kritik. Weder Richard Gutjahr noch das ARD Nachmagazin waren in diesem Fall gedankenlos und voyeuristisch (so sieht das auch Meedia), sondern haben richtig reagiert. Stein des Anstoßes war neben dem Material von Gutjahr auch die BILD-Chefredakteurin Tanit Koch, die in vielen Tweets Bild- und Videomaterial unterschiedlichen Ursprungs weiterverteilt hat. So hat sie offenbar ein schreckliches Video des Kanals „News this Second“ geteilt. Obwohl das meines Erachtens tatsächlich eine Verfehlung darstellt und mindestens Gedankenlosigkeit verrät, so überschreitet die Kritik selbst moralische und z.T. auch rechtliche Grenzen (wie in diesem prominenten Fall).

Medienethische Kriterien

Welche Bilder dürfen gezeigt werden? Es sind vier medienethische Kriterien, die bei der Entscheidung helfen mögen (siehe dazu meinen Beitrag zum Bild von Aylan Kurdi):

  1. Die Würde der Opfer und die Rechte anderer Betroffener (z.B. Angehöriger): Wie wir mit Toten umgehen, wie wir sie zeigen, ins Bild setzen und über sie schreiben, zeugt davon, wie wir es mit der Menschenwürde halten. Einen verstorbenen Menschen abzubilden – dafür braucht man gute Gründe. Diese Gründe gibt es – auch in diesem Fall. Aber auch dann gibt es Möglichkeiten, seine Würde zu schützen und damit eine Kultur der Menschenwürde zu bewahren und zu fördern: Das Gesicht darf nicht zu sehen sein. Keinesfalls darf es reißerisch präsentiert werden. Ähnliches gilt für Angehörige in ihrem Schmerz. Hier ist Distanz gefragt. Ganz klar: Lasst sie in Ruhe und filmt sie nicht in ihrer Trauer. Das gilt immer.
  2. Zumutbarkeit, Schutz der LeserInnen und Zuschauer: Menschen sind mit solchen Szenen überfordert. Viele wollen so etwas nicht sehen und sie würden keine Anstrengungen unternehmen, das Bild zu recherchieren. Das Video von Gutjahr gehört auch in diese Kategorie – es überfordert, macht Angst, man bekommt die Szene nicht aus dem Kopf. Würde man es seinen Kindern zeigen? Ein Gefühl für die Zumutbarkeit ist notwendig in Redaktionen und bei Journalisten, aber auch bei all denen, die selber Videos gemacht haben, live auf Sendung gehen können oder später publizieren. In diesem Fall ist Zumutbarkeit und der Schutz der Leser und Zuschauer meines Erachtens wichtig. Im Nachtmagazin ist das Video OK, tagsüber vielleicht eher nicht. Immer muss aber kommentiert werden.
    Der Zensurvorwurf an dieser Stelle trifft nicht: Selbstverständlich entscheiden Journalisten täglich, was gezeigt wird und was nicht. Das ist ihr Job und ist nicht “Zensur”. Man kann sich für eine Publikation von schlimmen Szenen entscheiden, und dafür gewichtige Argumente bringen. Aber eben auch dagegen, ebenfalls mit gewichtigen Argumenten.
  3. Journalistische Pflicht zur Berichterstattung und Information über die Realität bei Attentaten und Terroranschlägen: Journalisten haben die Verantwortung, über die Dinge der Welt wahrheitsgemäß zu berichten und die Öffentlichkeit zu informieren. Die Welt muss auch von den schlimmen und schrecklichen Attentaten erfahren.
  4. Menschen aufrütteln wollen: Manche argumentieren, dass Menschen diese Bilder und Videos sehen müssen. Es gehöre zu unserer Realität und nur durch Kenntnis der Dinge können man Urteilen, was politisch zu tun sei. Ich bin skeptisch, ob man durch solche Videos und Bilder zu einem guten Urteil gelangen kann. Dazu ist die Lage zu komplex, viele Dinge weiß man noch gar nicht. Videos vom Tatort helfen alleine nicht, zu einem abgewogenen Urteil zu kommen, denn Sie wecken Emotionen, Schrecken und Abscheu.

Natürlich bleibt die Entscheidung eine Abwägungssache. Einige Kriterien können nicht gemeinsam realisiert werden. Dafür sind gute Journalisten ausgebildet und in Redaktionen finden entsprechende Debatten statt. Boulevard-Zeitungen und solche Portale überschreiten regelmäßig Grenzen. Kann man dagegen vorgehen? Ja: Nicht kaufen. Nicht Klicken.

Live-Streaming verändert die Welt – und uns

In digitalen Zeit hat sich die Medienwelt enorm verändert, jede wird potentiell zur Live-Journalistin, jeder geht mit Periscope oder Facebook-Live unmittelbar auf Sendung. Bei den jüngsten Todesschüssen konnte man das in den USA beobachten. Warum Menschen in solchen Situationen eine Übertragung starten und warum Menschen sich das anschauen? Vermutlich geht es um den Reiz der Echtzeit, um eine gesteigertes Erlebnis von Authentizität. Die französische Polizei hat interessanter Weise dazu aufgerufen, keine Schreckensbilder zu verteilen. Vielleicht entsteht eine neue Sensibilität. Aber Streaming nimmt zu, weitere Innovationen auf dem Gebiet werden kommen. Damit verändert sich wiederum enorm die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, und uns selber darin verorten.

Kontakt gerne auch via Twitter: @afilipovic.

Alexander Filipovic

Professor für Sozialethik an der Universität Wien, Schwerpunkte: Medienethik, Technikethik, politische Ethik, Wirtschaftsethik

2 Kommentare:

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