Lügenpresse, Germanwings, Aylan – Ein medienethischer Jahresrückblick 2015

2015 schlug Journalisten großes Misstrauen entgegen. Pegida-Demonstranten etwa skandierten „Lügenpresse“. Zu Recht? Was Zeitungen und Rundfunk falsch machten und was richtig: ein medienethischer Jahresrückblick

Im Jahr 2015 war einiges los. Oft mussten Zeitungen, TV und Radio über die schreckliche Dinge berichten. In vielen Fällen ist das gut gelungen. Einfühlsame Geschichten über die Trauer angesichts des Flugzeugabsturzes, Reportagen über die Situation der Flüchtlinge in Europa, anregende Kommentare über die Flüchtlingspolitik und jede Menge professionell geprüfter Nachrichten. Wichtig ist: Ein medienethischer Rückblick, der die Fehler und Verstöße des Jahres aufsammelt, darf nicht die sorgfältige Arbeit von tausenden Journalistinnen und Medienmachern aus dem Blick verlieren. Es wird oft nicht gesehen, dass in den Medien laufend gute Arbeit gemacht wird. Das Vertrauen in Medienakteure verschwindet allerdings mehr und mehr. Auch die gute Arbeit steht mittlerweile unter Generalverdacht: Alles gelogen, das Volk wird systematisch getäuscht, einige wenige – so die Ansicht – manipulieren die Masse.

Lügenpresse

Damit sind wir beim Thema „Lügenpresse“: Auch im Jahr 2015 schlägt den Medien starkes Misstrauen entgegen und die Wut äußert sich in den Webforen in aggressivster Weise. Die Pegida-Demonstrationen kultivieren dieses Misstrauen und diesen Hass: Falschinformation und politisch gelenkte Inhalte sind die Vorwürfe. Belegt werden diese durch tatsächliche oder vermeintliche Fehler in der Berichterstattung. Dass dies mit Absicht geschehe, wird allerdings immer nur unterstellt. Dass das Misstrauen der Mehrheit der Bevölkerung in die Arbeit der Medien auch ein Erfolg geschickter Propaganda ganz anderer Seiten sein könnte, wird wenig gesehen. Propaganda jedenfalls erlebt in Zeiten des Internets ein erstaunliches Revival: Der Moskauer Auslands-Fernsehsender RT (ehemals Russia Today), der vom russischen Staat finanziert wird und seit Ende 2014 im Internet auch ein Angebot in deutscher Sprache produziert, ist russische Staats-PR.

Terroristen flankieren ihre Taten mit einer digitalen Kommunikationsstrategie. In Polen wollen die nationalkonservativen Wahlsieger den öffentlich-rechtlichen Rundfunk näher an den Staat binden, alle Regierungen vergrößern ihren Stab an Kommunikationsexperten und professionalisieren weiter ihre Presseabteilungen. Nicht immer passiert dies alles in schlechter Absicht. Aber Informationen zu kontrollieren wird immer wichtiger und die Tools dazu werden mächtiger. Das freie Spiel der Meinungen geschickt zu unterbinden durch das Säen von Misstrauen scheint jedenfalls zu gelingen. Im Medienjahr 2015 wird dieser Trend immer deutlicher und sollte uns Sorgen machen.

Keine Frage: Unsere deutsche Nachrichtenwelt ist zu gleichförmig, Fehler passieren, Journalisten sind den Mächtigen nicht selten zu nahe, wirtschaftliches und politisches Marketing wird mit großem Einsatz professionell betrieben – all das sollte uns Sorgen machen. Generelles Misstrauen wird das Problem aber nicht lösen. Mehr besserer Journalismus, mehr und bessere Medien sind die Lösung – und damit meine ich nicht zuletzt auch uns Mediennutzer. Denn man trägt zu einer besseren Medienlandschaft bei, indem man gute Zeitungen liest und gute Programm hört und anschaut.

Absturz der Germanwings-Maschine

Der Absturz der Germanwings-Maschine des Flugs 9525 war auch ein Medienereignis. Boulevard-Blätter und Magazine überschritten moralische Grenzen, etwa dadurch, dass Trauernden aufgelauert wurde oder Mitschüler der Opfer zu Interviews überredet wurden. Unangenehm waren Falschmeldungen in Livetickern und Dauersondersendungen, in denen nichts Neues berichtet werden konnte und Spekulationen freien Lauf gelassen wurden.

Die wichtigsten Diskussionen entstanden um die Frage, ob der Name des Co-Piloten genannt werden darf. Der Deutsche Presserat, die Selbstkontrolleinrichtung der Verlage und der Journalistenverbände, hatte sich dafür entschieden. Direkt nach dem Absturz waren die Meinungen gespalten. Medienethisch eher erfreulich war die Bereitschaft von Journalisten und Medienleuten, engagiert und mit Argumenten darum zu streiten, was hier das Richtige ist. Allerdings war besonders in diesem Fall auffällig, wie aggressiv die Medien- und Journalismuskritik mittlerweile angelegt ist. Medienkritik kommt selber im Modus der Empörung daher – und wird damit Teil der Aufführung, die wir eigentlich gerne verlassen würden.

Foto von Aylan

Der zweite medienethische Fall des Jahres war das Foto des 3-jährigen syrischen Flüchtlingskindes Aylan Kurdi, der im türkischen Bodrum tot am Strand gefunden wurde. Das Bild ging in verschiedenen Versionen um die Welt und kann als das Bild-Symbol der Flüchtlingskrise gelten. Ob Bilder von Toten gezeigt werden sollten, ist immer eine schwierige Entscheidung. Eine allein an der Sensationslust der Menschen ausgerichtete Entscheidung verbietet sich.

Es kann aber auch gute Gründe geben, Bilder von Leid und Tod zu zeigen: die Wahrheit der unmenschlichen Umstände kann durch ein Bild verdeutlicht werden und Hilfsbereitschaft ermöglichen. Die Würde des Toten und der Schutz der Angehörigen müssen natürlich berücksichtigt werden. Ich sehe eine Veröffentlichung des Bildes kritisch, weil man Menschen ein solches Bild nicht ungefragt zumuten sollte. Man kann darüber schreiben, auch eine Anleitung geben, wie man das Bild im Netz finden kann, aber die Menschen sollen selbst entscheiden. Von diesem Bild abgesehen: Generell war die Flüchtlingskrise eine Herausforderung für die Medien. Den schockierenden fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Heidenau (Sachsen) folgte so etwas wie ein Flüchtlings-Sommermärchen. Die Willkommenskultur wurde in den Medien regelrecht gefeiert. Auch hier sieht man die Tendenz der Medien in die gleiche Richtung zu berichten und Objektivitätsstandards im Eifer weniger zu beachten.

Anschläge auf Paris

Bei den Anschlägen auf Paris schließlich wurde ein neues Phänomen sichtbar: Wer seine Solidarität mit der Stadt und den Opfern äußerte, wurde nicht selten mit aggressiver Kritik konfrontiert, warum man sich nicht mit anderen Städten und Opfern anderer Anschläge solidarisiere. Sicher, es gibt zu viel Leid, das in Vergessenheit gerät. Aber konkrete Solidarität für engstirnig und unmöglich zu erklären und öffentlich zu äußern ist eine unerträgliche moralische Besserwisserei. Man kann und soll den Menschen nicht vorschreiben, was ihnen Nahe geht.

Gute Vorsätze für 2016

Anlässe für Kritik an den Medien im Jahr 2015 gab es also genug. Gründe, warum Qualitätsjournalismus wichtig ist, ebenso. Halten wir auch zukünftig mit unserer Kritik nicht hinter dem Berg, seien wir wachsam gegenüber denen, die Misstrauen predigen. Ein guter Vorsatz für 2016 wäre: Nicht die Fehler und Verfehlungen suchen und sich mit zu einfachen Verschwörungstheorien die komplexe Welt erklären. Besser die guten Sachen lesen und anschauen.


Anmerkung: Eine leicht geänderte Version dieses Textes erschien zuerst am 18.12.2015 in der Augsburger Allgemeinen, S. 17 (Redakteur: Daniel Wirsching). Ich danke der Zeitung für die Möglichkeit, den Text hier zusätzlich zu publizieren.

Alexander Filipovic

Professor für Sozialethik an der Universität Wien, Schwerpunkte: Medienethik, Technikethik, politische Ethik, Wirtschaftsethik

8 Kommentare:

  1. Wie wichtig „Qualitätsjournalismus“ ist, habe ich gerade heute früh wieder erfahren dürfen. Wir alle haben in den letzten Tagen verfolgen können, wie ein Nazi ein Tattoo mit der Silhouette von Auschwitz und dem KZ-Buchenwald-Eingangs“motto“: „Jedem das seine“ im Schwimmbad spazieren trug. Auch wie er gestern dafür verurteilt wurde.

    Bei Thomas Schaaf im „Morgenecho“ auf WDR5 wurde daraus heute früh um kurz vor halb neun wörtlich: „der Grundriss von Auschwitz und der Spruch ‚Arbeit macht frei'“.

    Fazit: selbst Gebührenfinanzierter „Qualitätsjournalismus“ hat keine Bedeutung mehr. Alle, die Twitter oder Facebook haben waren besser- vor allem richtiger und früher informiert als jeder Hörer von WDR5 heute früh.

    Das eben begründet auch das Misstrauen der Menschen gegenüber der „Presse“. Neben jenem Teil der Presse, der seit Jahrzehnten bewusst im Sinne der politischen Weltanschauung ihrer Verleger manipuliert und lügt, wie Springer, Burda, Bertelsmann oder DuMont gibt es da noch jene, die schlicht – egal ob aus Fahrlässigkeit, Dummheit oder Faulheit – wie heute früh Herr Schaaf falsch informieren.

    Da sich aber jeder Bürger inzwischen mit Hilfe des Web selbst ein Bild machen kann (mehrere tausend Quellen statt nur einer „journalistisch“ ge“filter“ten zur Verfügung hat) werden faule, dumme und fahrlässige Journalisten immer häufiger der Falschberichterstattung überführt. Dazu berichtet die gedruckte wie auch die Online-Presse inzwischen meist zu spät.

    To little to late ist aus meiner Sicht das, was vom „Qualitätsjournalismus“ übrig geblieben ist.

  2. Medien existieren nicht im luftleeren Raum: Zeitungen haben Besitzer, TV-Sender werden von Parteien und ihnen nahe stehenden Gruppen kontrolliert. Ich erinnere mich, dass, als George W. Bush seinen Irakkrieg begann, sämtliche über einhundert Zeitungen und Fernsehstationen, die unter Rupert Murdochs Fuchtel standen, diesen Krieg unterstützten.
    Also: Natürlich gibt es genügend Journalisten, die die Wahrheit (wie sie sie sehen) schreiben wollen, aber ihnen sind einfach Grenzen gesetzt. Wenn z. B. Giovanni di Lorenzo heute seine Liebe zum Kommunismus entdeckte, wäre er morgen seinen ZEIT-Dienstwagen los. Er würde also im Falle des Falles eher schweigen.
    Besonders üble Opportunisten schweigen in den Medien manchmal leider nicht: Ich erinnere mich noch gut an den Tagesthemen-Kommentar eines HR-Menschen (ich lasse hier gnädig den Namen weg), der zum Griechenland-Konflikt meinte, hier liege eindeutig eine Situation vor, bei der klar sei, wer der ‚Böse‘ ist. Erschütternd.

  3. Lügenpresse ist ein zu hartes Wort. Ich würde ehr sagen Lobbypresse. Nicht alle aber Springer und Konsorten haben schon Mitschuld an dem Misstrauen der Bürger. Wobei ich noch glaube, das wir hier in Deutschland noch eine recht freie Presse haben. Lobbyismus ist heutzutage eines der Hauptprobleme des Journalismus. Viele Presseleute stehen zu vielen „Mächtigen“ nahe, das könnte in Zukunft noch schlimmer werden.
    Wünsche allen trotzdem ein schönes Weihnachtsfest 🙂

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  5. Pingback:Jonet Das Journalistennetz. Seit 1994. » Medienlog 19. bis 24. Dezember 2015

  6. Gleichgeschaltet

    Wenn die deutsche Presse gleichförmig immer nur auf Putin draufhaut, dann ist es für mich eine gleichgeschaltete Presse. Nur die Meinung der Besitzer oder die Meinung der durch Parteispenden von diesen Besitzern gekaufte Politik. Diese Meinung ist verzichtbar, denn man weiß schon vorher, was kommt.

  7. Waltraud Gundlach

    https://www.contra-magazin.com/2015/12/rt-deutsch-machtmensch-putin-doku-das-zdf-hat-mich-bezahlt-zu-luegen/

    Ja, es ist schon so. Die guten Journalisten leiden unter der weit verbreiteten Erkenntnis, daß den Medien nicht zu trauen ist! Es sind weniger die aufgedeckten glatten Lügen als die EINSEITIGKEIT der Betrachtungen eines Themas. Wenn am Beispiel Ukraine alle Verstrickungen und Absichten der NATO/USA ganz einfach ignoriert werden, die Führung der Ukraine von vornherein die Guten sind, wer soll da noch etwas glauben? Die Kritik ist geradezu gruselig einseitig. Ebenso werden Informationen zurückgehalten, die einem Ereignis eine völlig andere Wendung verleihen würden/könnten.

    https://www.youtube.com/watch?v=Rx5SZrOsb6M&t=34m59s

    Hier eine Vorlesung über dieses Thema!

    Auch der FREITAG folgt in einigen Bereichen strikt der von der „correctnes“ vorgegebenen Linie. Da wird ein Buch wie HEIDI zum „völkischen, pädophilen,
    rückwärtsgewandten „geschlechterstereotypen Gaga-Plot“ erklärt. Gender sei Dank.

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